Handbuch für eine neue Wissenschaft
Einführung in die Individualökonomie
              Einführung in die Einführung

(aus: Die humane Revolution, S. 144 - 156)

Für Volks- und Betriebswirte sind Menschen ein Objekt ihrer Forschungen. Gegenstand der Forschung sind Nationen, Märkte und Unternehmen.
Die wissenschaftliche Analyse der Wirtschaft in der humanen Revolution wird aber den Menschen in seiner Einzigartigkeit als Gegenstand ihrer Forschung betrachten müssen.
Der Unterschied zwischen diesen Ansätzen mag nicht so groß klingen.
Er ist aber gewaltig.
Es gibt auch jetzt schon Ökonomen, die behaupten, den Menschen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit zu stellen. Wie zum Beispiel Michael Hammer und James Champy, die Erfinder des berüchtigten Reengineering: »Business Reengineering versucht nicht, Arbeitnehmern und Managern fremde Verhaltensweisen aufzuzwingen«, schreiben sie. »Statt dessen stützt es sich auf die vorhandenen Begabungen und setzt die menschliche Kreativität frei.«
Und am Ende dieses »kreativitätsfördernden« Prozesses sollten sich »die Glaubenssätze der Mitarbeiter etwa so anhören:
• Nur die Kunden zahlen unsere Gehälter: Ich muss alles tun, um sie zufrieden zu stellen.
• Jede Position im Unternehmen ist wesentlich und wichtig: Mein Beitrag bewirkt etwas.
• Bloße Anwesenheit ist keine Leistung: Ich werde für den Wert bezahlt, den ich erzeuge.
• Der Schwarze Peter bleibt bei mir hängen: Ich muss die Verantwortung für Probleme auf mich nehmen und sie lösen.
• Ich bin Mitglied eines Teams: Wir gewinnen oder scheitern gemeinsam.
• Niemand weiß, was der morgige Tag bringen wird: Stetiges Lernen ist Teil meiner Arbeit.«
Kennen Sie jemanden, der freiwillig solche »Glaubenssätze« annehmen würde? Oder gar jemanden, der das Gefühl hätte, dass diese düsteren Drohungen »die menschliche Kreativität freisetzen«?
Wenn in der humanen Revolution überhaupt Glaubenssätze für die Humankapital-Investoren formuliert werden können, dann wohl eher solche, wie sie 1486 von dem damals 23jährigen Giovanni Pico della Mirandola aufgestellt wurden:
• »Mögest du jeden beliebigen Wohnsitz, jedes beliebige Gesicht und alle Gaben, die du dir sicher wünschst, auch nach deinem Willen und nach deiner eigenen Meinung haben und besitzen.
• Du bist durch keine unüberwindlichen Schranken gehemmt.
• Du bestimmst als dein eigener, vollkommen frei und ehrenhalber schaltender Bildhauer und Dichter dir selbst die Form, in der du zu leben wünschst.
• In den Menschen hat der Vater gleich bei seiner Geburt die Samen aller Möglichkeiten und die Lebenskeime jeder Art hineingelegt. Welche er selbst davon pflegen wird, diejenigen werden heranwachsen und werden in ihm Früchte bringen.«
Pico della Mirandola hatte damals in Rom insgesamt 900 Thesen zu allen Gebieten der Philosophie aufgestellt, wollte sie dort mit allen Gelehrten seiner Zeit diskutieren und wurde dafür von Papst Innozenz VIII. mit dem Kirchenbann belegt. Aber wahrscheinlich hätte man diese Thesen immer noch besser mit Theologen des ausgehenden 15. Jahrhunderts diskutieren können als mit Ökonomen des beginnenden 21. Jahrhunderts.
Ich glaube, dass es hier nicht damit getan sein wird, ein paar neue Forschungsprogramme, Bücher und Lehraufträge aufzulegen. Ich plädiere dafür, eine neue Fachrichtung innerhalb der Wirtschaftswissenschaften zu schaffen: die Individualökonomie.

Der Gegenstand der Individualökonomie ist der Humankapital-Investor. Die Nationalökonomie stellt die Wohlfahrt eines Volkes in den Mittelpunkt ihrer Tätigkeit, die Betriebswirtschaft die Interessen des Unternehmens. Und im Zentrum der Individualökonomie steht der Mensch in seiner Einzigartigkeit, und zwar in seiner Eigenschaft als Inhaber eines spezifischen Humankapitals. Dieser Humankapital- Investor fällt Entscheidungen darüber, für welche Tätigkeiten er welche Bestandteile seines Humankapitals aufwenden möchte.
Hierbei handelt es sich um den entscheidenden Unterschied zwischen der Individualökonomie und der Anfang der 60er Jahre maßgeblich von Gary Becker entwickelten Humankapitaltheorie. Diese setzt die Aufwendungen für Aus- und Weiterbildung mit dem individuell erzielbaren Arbeitseinkommen in Beziehung - sie untersucht also die Investition in Humankapital. Die Individualökonomie dagegen untersucht die Investition des Humankapitals.
Ziel der theoretischen Individualökonomie ist es, die Bestimmungsgründe für diese Investitionsentscheidungen und ihre Änderungen im Zeitverlauf zu untersuchen sowie Kriterien für die Ermittlung des optimalen Investitionspunktes zu definieren. Die angewandte Individualökonomie beschäftigt sich dagegen mit Techniken, die die Entscheidungsfindung des Humankapital-Investors erleichtern und/oder deren Resultate verbessern können sowie mit Methoden, die zur Vermehrung des individuellen Humankapitals beitragen können.
Die spezielle Investitionstheorie des Humankapital-Investors beschäftigt sich ausschließlich mit Investitions-Entscheidungen, die produktive und profitorientierte Tätigkeiten betreffen - also dem Lebensbereich, der im allgemeinen Erwerbsarbeit genannt wird. Sie untersucht, nach welchen Kriterien sich Menschen für oder gegen eine Investition ihres Humankapitals entscheiden und betrachtet dabei die beiden Rendite-Maximierungsvariablen E (Einkommen, kurzfristige Profitmaximierung) und W (Wissen, langfristige Profitmaximierung).
Wie die meisten einfachen Theorien ist auch die spezielle Investitionstheorie des Humankapital-Investors dennoch eher für den Hörsaal als für die Praxis geeignet. Vor allem in zwei Punkten ist sie reichlich realitätsfern:
• Es handelt sich um eine rein statische Betrachtung, die die Zeitachse nicht mit ins Kalkül zieht.
• Sie beschränkt den Blick auf Entscheidungen, die die Erwerbsarbeit betreffen, obwohl doch alle Entscheidungen, mit denen Menschen über ihre Zeit verfügen, als Investitionsentscheidungen über ihr Humankapital gewertet werden können.
Beide Kritikpunkte sollten durch Weiterentwicklungen der speziellen Investitionstheorie aus der Welt geschaffen werden.
Die dynamische Investitionstheorie des Humankapital-Investors betrachtet die Investitionsentscheidungen im Zeitverlauf. Sie untersucht zum Beispiel,
• wie sich die Jobkurven eines Investors mit zunehmendem Alter ändern: Handelt es sich eher um eine Wellenbewegung, mit hoher Präferenz für den Finanzertrag in mittleren Jahren sowie hohem Interesse an Wissenserwerb in Jugend und Alter? Oder eher um eine beständige Abnahme des Lernwunsches, weil Hans nicht mehr lernt, was Hänschen nicht lernte? Oder dominiert die grundlegende psychische Disposition: einmal neugierig, immer neugierig?
• welchen Einfluss die Art der bisherigen Investitionen auf zukünftige Investitionen hat: Gibt es besonders häufige oder besonders Erfolg versprechende Zeitpunkte zum Einstieg in eine zweite Karriere? Wie wirken sich zusätzliche Ausgaben für Weiterbildung auf die Präferenzen des Investors aus? Investieren Menschen ihr Humankapital anders, wenn sie finanziell unabhängig werden?
• welchen Einfluss die Dauer der bisherigen Investitionen auf zukünftige Investitionen hat: Wie kann jemand, der bisher stets Job-Hopper war, dauerhaft gebunden werden? Sind Menschen, die es besonders lange am selben Arbeitsplatz aushalten, auch besonders innovationsfeindlich?
Die allgemeine Investitionstheorie des Humankapital-Investors (oder auch: Portfoliotheorie des Humankapitals) hebt die Beschränkung auf die Erwerbsarbeit auf. Denn natürlich gibt das Wissen-Einnahme- Diagramm die Nutzenfunktion des Humankapital-Investors nicht komplett wieder - es beschränkt ihn immer noch auf die Modell-Annahme des homo oeconomicus, des Menschen, der sich bei jeder Entscheidung nur von rationalen ökonomischen Kriterien leiten lässt:
• Das Einkommen, das er mit seiner Investition erzielt, dient der kurzfristigen Profitmaximierung.
• Der Lerneffekt, den er aus seiner Investition zieht, trägt zur langfristigen Profitmaximierung bei.
Erst wenn man diese Begrenzung auf den homo oeconomicus fallen lässt, kann tatsächlich der Mensch in seiner Einzigartigkeit von der Individualökonomie untersucht werden. Liebe, Leid, Neid, Glück, Hass, Sex, Sympathie, Langeweile, alles, was Menschen bewegt, spiegelt sich in ihren Zeitdispositionen wider. Und nur wer weiß, was er als Mensch will, wird auch in der Lage sein, eine optimale Entscheidung darüber zu treffen, was er als Humankapital- Investor will.
Dies dreht den Denkansatz genau um, den in den 70er Jahren wiederum Gary Becker in der Ökonomie der Nicht-Markt-Beziehungen entwickelte. Bei ihr wird, so Becker 1977, »die Ökonomie nicht durch den marktmäßigen oder materiellen Charakter des zu behandelnden Problems definiert, sondern sie umfasst jede Fragestellung, bei der es um die Ressourcenverteilung oder die Wahl in einer Knappheitssituation geht.« Becker wollte das gesamte menschliche Dasein in das Prokrustresbett des homo oeconomicus zwängen - die Portfoliotheorie des Humankapitals hingegen holt die Menschen dort ab, wo sie sind: in ihrer Einzigartigkeit.
Um die gesamte Palette der Wünsche und Begierden theoretisch und praktisch handhabbar zu machen, müssen auch sie operationalisierbar werden. Mein Vorschlag: Neben die Variablen E und W, die die zwei Zeitebenen der Profitmaximierung umreißen, könnten noch zwei weitere Variablen treten, die das gleiche für die Glücksmaximierung tun:
• Die kurzfristige Glücksmaximierung: der Spaß (F), den der Investor mit und bei seiner Investition hat.
• Die langfristige Glücksmaximierung: der Sinn (S), den seine Investition stiftet.
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